News · 26.01.24

Kann die öffent­liche Verwal­tung agil – und wenn ja, wieviel?

Ende-zu-Ende-Digitalisierung, Automatisierung, Cloud: Verwaltungsthemen werden immer komplexer. Braucht es neue Fähigkeiten, um in einer gestaltenden Rolle zu bleiben? Können Verwaltungen von Vorgehensweisen aus dem Innovationsmanagement profitieren? Der Kongress Innovatives Management 2023 bot eine Schulung an, in der geprüft wurde, wofür sich agile Arbeitsweisen eignen.

Projekte scheitern an der unreflektierten Wahl eines Projektmanagement-Ansatzes – mit dieser einfachen Antwort ließe sich der schnelle Schwenk zum Thema agiles Arbeiten machen. Doch natürlich ist die Antwort komplexer, wie die Innovation Natives auf dem Innovativen Management 2023 aufzeigten. Unter dem Titel „Agiles Arbeiten in der Verwaltung: Wollen wir das? Sollten wir das? Dürfen wir das?“ erläuterten Marc-Norman Pfuhl und Matthias Abel die wesentlichen Merkmale agiler Vorgehensweisen. Die beiden gaben Hilfestellung für die Einordnung von Projekten und deren Bearbeitung. Als die grundsätzlichen Regeln des agilen Arbeitens nannten sie:

  1. Am Anfang steht immer ein Abgleich der Anforderungen und Erwartungshaltungen mit Nutzenden bzw. der Zielgruppe, mit Stakeholder:innen und dem Projektteam, um mit möglichst viel Wissen ins Projekt zu starten.
  2. Alle Projektteilnehmer:innen arbeiten kollaborativ zusammen – zum Beispiel in gemeinsamen Workshops oder Sprints.
  3. Schon im Vorfeld werden mögliche Frameworks und Methoden als Arbeitsgrundlage besprochen, ehe sie dann im Projektverlauf in Bezug auf Produktivität und Effizienz reflektiert werden.
  4. Im Fokus steht die zeitnahe Schaffung von Wert für Nutzende und Stakeholder:innen. Erst dann stellen sich Fragen wie: Was ist technisch möglich? Was erlauben die neuesten Entwicklungen? Was lässt sich wie umsetzen? 
Matthias Abel, Geschäftsführer der Innovation Natives, gab den Teilnehmer:innen Einblicke in agile Arbeitsmethoden.

Das Phänomen der scheinbar klaren Anforderungen

Ein bekanntes Problem ist, dass die Anforderungen oft nur scheinbar klar sind. Wenn dann ein erstes Ergebnis vorliegt, zeigt sich der Überarbeitungsbedarf. „I know it when I see it“ lautet das Prinzip. Dahinter steckt auch ein Indikator für den Lösungsweg: Klare Ziele können klassisch erarbeitet werden, unklare besser agil. Genau deshalb ist es aber häufig schwer, vorher zu entscheiden, ob es sich um ein klassisches oder ein agiles Projekt handelt.

 

Modelle zur Einordnung

Zwei Modelle können Aufschluss über die optimale Vorgehensweise geben. Die Stacy Matrix setzt Ziel und Weg in Relation. Dazu werden zwei Fragen gestellt.

  1. Wie klar lässt sich das Ziel benennen?
  2. Wie klar ist uns, wie wir das Ziel erreichen können?

 Je klarer die Antworten auf die Fragen sind, desto wahrscheinlicher ist eine klassische Vorgehensweise. Fällt nur eine Antwort unklar aus, wird die agile Methode wahrscheinlicher. Als Einordnungshilfen dienen vier Attribute: einfach, kompliziert, komplex und chaotisch. Sind Ziel oder Weg komplex oder gar chaotisch, wird die Vorgehensweise agil sein.

Das zweite Modell CYNEFIN – walisisch für Habitat – ist komplexer als die Stacy Matrix und ordnet die zwei Welten in vier Arten von Projekten:

1. Das einfache Projekt

Das einfache Projekt bedient sich klassischer Projektmanagement-Methoden (wie zum Beispiel einer To Do-Liste oder auch eines Pflichtenhefts), in dem klare Aufgaben oder Anforderungen niedergelegt sind. Beschrieben wird der Prozess über geordnete To Dos in zeitlich sinnvoller Reihenfolge oder mit Meilensteinen. Bild dafür ist der Wasserfall, der nur in eine Richtung fließt: von oben nach unten. Hier finden wir häufig Best Practice-Vorlagen, die zur Anwendung gebracht werden können.
 

2. Das komplizierte Projekt

Im komplizierten Projektumfeld fehlen eindeutige Best Practices. Es existieren jedoch Vorerfahrungen mit möglichen Praktiken, die man als „Viable Practice“ oder „Good Practice“ bezeichnen könnte. Sie setzen eine Zusammenarbeit von Experten voraus, die parallel oder sequenziell einem zwischen den Teilnehmer:innen abgestimmten, weiterhin aber linearen Prozess folgen. Während im einfachen Projekt Ursache-Wirkung-Beziehungen für jeden Projektteilnehmer nachvollziehbar sind, setzt die Nachvollziehbarkeit von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in einer komplizierten Projektumgebung Fachwissen oder eine aufwendigere Planung voraus. Doch auch hier kommen klassische Projektmanagement-Frameworks und -Techniken zum Einsatz.

3. Das komplexe Projekt

Dieses Projektumfeld ist häufig im Kontext von Innovationsprojekten oder Neuentwicklungen anzutreffen. Hier entfalten agile Arbeitsmethoden ihren eigentlichen Wert. Das komplexe Projektumfeld ist charakterisiert durch Unbekannte: Annahmen und Unvorhersehbarkeiten, die sich auf den Weg zum Ergebnis beziehen oder auf das Ergebnis selbst. Hier ist mehr als eine sinnvolle Lösung denkbar: Es mischen sich kreative, innovative Ansätze und konkurrierende Ideen, die im Rahmen agiler Vorgehensweisen Anwendung finden. Damit Fortschritt erzielt und Risiko minimiert wird, reihen sich Experimente aneinander, zum Beispiel in Form von Prototypen. Nach jedem Experiment wird sowohl das Ergebnis auf seinen Wert hin überprüft (Review), als auch der Prozessschritt (Retrospektive), der zu diesem Ergebnis geführt hat. Das Team arbeitet in iterativen, aufeinander aufbauenden Schleifen und baut auf dem geschaffenen Wert und den Erkenntnissen der jeweils vorangehenden Entwicklungsschleife auf (inkrementell).

4. Das chaotische Projekt

Diesem Projektumfeld liegt eine definierte Absicht zugrunde, klare Vorstellungen eines Zielbilds fehlen aber. Es gibt kaum Vorwissen, keine erkennbaren Muster, keine Referenzen und keine Nachvollziehbarkeit im System. Wir tun Dinge zum ersten Mal. Die Corona-Pandemie kann hier als Beispiel dienen: Wir entscheiden und handeln, ohne mit Sicherheit vorhersagen zu können, was unser Handeln im System produziert. Es reiht sich Versuchsreihe an Versuchsreihe. Im Fokus stehen der erreichte Fortschritt und das Bilden belastbarer Hypothesen bzw. das Erkennen robuster Zusammenhänge. In diesen Umfeldern entstehen neue, innovative Praktiken als Ergebnis von Experimenten.

Fazit: Öffentliche Verwaltung kann agil! Darf aber (noch) nicht so viel.

Im agilen Projektmanagement gilt: Viele kleine aufeinander aufbauende Experimente statt des einen großen Wurfs. In Summe steht hinter dem agilen Arbeiten eine Vorgehensweise, zu der neben einer Experiment- und Fehlerkultur auch stark abweichende rechtliche Rahmenbedingungen gehören. 
Agiles Arbeiten bedeutet die Umkehrung des klassischen Projektdreiecks. Während im klassischen Projektdreieck der Umfang feststeht und Zeit und Budget in Abhängigkeit davon definiert werden, gilt im agilen Projektdreieck: Budget und Zeit werden definiert, der Umfang ergibt sich als abhängige Größe. Das macht Projekte schwerer kalkulierbar. 

Da genau solche Projekte in der öffentlichen Verwaltung keine Seltenheit sind, hatten die Teilnehmer:innen der Schulung großes Interesse an neuen Vorgehensmodellen. Gleichzeitig blieben viele Teilnehmer:innen merklich skeptisch. Sie hatten berechtigte Einwände: Ausschreibungen nach Wirtschaftlichkeit und die Bindung an Vorgaben wie denen des Landespersonalvertretungsgesetzes widersprechen dieser Umkehrung ganz direkt. Hier braucht die Verwaltung mehr Gestaltungsspielraum.
Um auch „komplexe“ Aufgabenstellungen in den Griff zu bekommen, kann es sich lohnen, zunächst mit einem MVP – Most Viable Product – zu starten, diszipliniert und regelmässig auf den Prozess zu blicken, die nächsten Schritte wertorientiert zu planen und in der Folge Optimierungen einzubauen, um so zu Prototypen zu gelangen. 
 

projektbericht

Projektbericht Referenzprozess E-Rechnung

Agiles Arbeiten in der öffentlichen Verwaltung
Als Referenz für ein agiles Vorgehen in der deutschen Verwaltung steht der gemeinsam mit diversen Bundesbehörden erarbeitete Standardprozess E-Rechnung. Lesen Sie im Projektbericht welche sieben Erfolgsfaktoren das Projekt vorangetrieben haben.
Mitarbeiter:innen stemmen Ruderboot: Auf zu neuen Ufern mit der MACH E-Rechnung
Keynote Innovatives Management 2023 | © Jakob Börner News
#Digitalisierung #E-Government #Innovatives Management

10 Tipps gegen das Kreativsein

Prof. Dr. Sascha Friesike zeigte in seiner Keynote beim 23. Kongress Innovatives Management in Lübeck auf, was Kreativität kaputt macht. So verdeutlichte er, dass öffentliche Verwaltungen oftmals kreative Potenziale verschenken.